Auf dieser Karikatur halten Landesverkehrsminister Winfried Hermann und ein weiterer Mann einen Bilderrahmen in die Höhe. Auf dem Bild im Rahmen steht ÖPNV.
Foto: Jonas Raeber/Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg

Interview zu On-Demand-Verkehren

"Ein flächendeckendes ÖV-System generieren"

Warum On-Demand-Verkehre für ein flächendeckendes ÖV-System essenziell sind, erklärt Gerd Hickmann vom Ministerium für Verkehr im Interview. 

Das Zukunftsnetzwerk ÖPNV fragt nach: Zum Abschluss der Interviewreihe zu On-Demand-Verkehren sprechen wir mit Gerd Hickmann – dem Leiter der Abteilung Öffentlicher Verkehr im Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg – über die Chancen und Vorteile der flexiblen Bedarfsverkehre. In seiner Studienzeit nutzte er selbst Anmeldetaxis, später war er als ÖPNV-Planer und -Berater am Aufbau eines Rufbussystems beteiligt. 

Zukunftsnetzwerk ÖPNV: Wann kamen Sie persönlich das erste Mal mit dem Thema On-Demand-Verkehre in Berührung? 

Gerd Hickmann: Als ich in den frühen Neunzigerjahren in Tübingen studiert und in einem Vorort gelebt habe, war der Spätverkehr schon damals ein Anmeldetaxiverkehr zum ÖPNV-Tarif. Diesen nutzte ich natürlich auch selbst, um nach Hause zu kommen. In den späten Neunzigerjahren habe ich dann ein großes Vergabeverfahren für ein flächendeckendes Rufbussystem im Landkreis Rottweil durchgeführt. Es wurde dort neu aufgestellt und neu vergeben. Damals hatten wir bereits das realisiert, was wir uns heute als Land vornehmen: Eine Mobilitätsgarantie zu erreichen, in der jede Ortschaft stündlich angebunden wurde – anfänglich im Spätverkehr, unter der Woche von 18 Uhr bis Mitternacht. In dieser Zeit habe ich sehr viele beruflich-praktische Erfahrungen gesammelt. 

Zukunftsnetzwerk ÖPNV: Wie hat das Rufbussystem in den Neunzigerjahren funktioniert und wie unterscheidet es sich von den heutigen flexiblen Formen des Bedarfsverkehrs?  

Gerd Hickmann: Es war als fahrplangebundenes Korridorverkehrssystem konzipiert, das durch Mietwagen- oder Taxiunternehmen erbracht wurde. Bestellen konnte man den Fahrdienst natürlich nur telefonisch. Es lag dann im Geschick der Dispositionszentrale, durch zeitliche Steuerung der Fahrtwünsche im Gespräch mit den Anrufenden eine möglichst hohe Bündelungsquote zu erreichen, was maschinell oft gar nicht so möglich ist. Ansonsten war das Prinzip recht ähnlich zu den heutigen flexiblen Bedienformen. 

Zukunftsnetzwerk ÖPNV: Was waren die größten Herausforderungen bei der Umsetzung des Rufbus-Konzeptes?  

Gerd Hickmann. Damals war die größte Herausforderung, überhaupt Unternehmen zu finden, die fahren möchten, und sich auch darauf verpflichten, gewisse Kapazitäten immer bereitzuhalten, um die Zuverlässigkeit des Verkehrs auch bei hoher Nachfrage sicherzustellen. Denn die Betreiber litten damals schon a) an einem Personalmangel und b) ist es eben schwierig, die Zuverlässigkeit des Systems sicherzustellen, wenn bestimmte Fahrzeuge auf längeren Strecken unterwegs sind – z.B. eine attraktive Taxifahrt zum Stuttgarter Flughafen haben – und dann gebuchte Fahrten ausfallen. Das ist die Kehrseite der Wirtschaftlichkeit des Mehrfacheinsatzes von Ressourcen.  

Zukunftsnetzwerk ÖPNV:  Das Thema Personalmangel ist heute aktueller denn je – ist es für die Aufgabenträger also immer noch die größte Herausforderung, überhaupt Betreiber zu finden, die Fahrdienste leisten möchten? 

Gerd Hickmann: Da bin ich jetzt zu weit weg von der Praxis. Ich kann mir aber vorstellen, dass es nach wie vor ein Problem ist, vor allem, weil in den letzten 20 Jahren die Anzahl an Mietwagen- und Taxiunternehmen in der Fläche abgenommen hat. Moderne Systeme, wie das ÖPNV-Taxi in Freudenstadt, gehen deshalb dazu über, die Leistungen nicht durch einen einzigen Betreiber operativ durchführen zu lassen. Sie greifen hierbei auf verschiedene Unternehmen und Flotten zu. Das erhöht die Sicherheit, die Leistung auch tatsächlich erbringen zu können. 

Zukunftsnetzwerk ÖPNV:  Bleiben wir beim hier und jetzt: Welche Funktionen erfüllen On-Demand-Verkehre als Verkehrsträger? 

Gerd Hickmann: On-Demand-Verkehre sind dazu geeignet, Flächendeckung in Räumen und Zeiten schwacher Nachfrage sicherzustellen. Sobald die Verkehrsnachfrage gewisse Grenzen überschreitet – also relevant wird – wird man es sich in einem Hochlohnland mit Arbeitskräftemangel aber nicht leisten können und wollen, Massenverkehre mit solchen Systemen zu bewältigen. Das mag in anderen Ländern mit Arbeitskräfteüberschuss anders aussehen. Mengenmäßig werden On-Demand-Verkehre dann vielleicht am Ende nie die Ein-Prozent-Schwelle der beförderten Personen überschreiten – das heißt, On-Demand-Systeme werden immer eine Nische bleiben. Dennoch können sie für die Flächendeckung und Verfügbarkeit des ÖV-Systems eine große Rolle spielen.  

Zukunftsnetzwerk ÖPNV: Worin sehen Sie den größten Nutzen von On-Demand-Verkehren – vor dem Hinblick der angestrebten Mobilitätsgarantie? 

Gerd Hickmann: Der größte Nutzen liegt darin, Räume – in denen keine relevante Nachfrage besteht – mit vertretbaren Kosten erschließen und dort ein Angebot anbieten zu können. Das ist mit anderen, klassischen Systemen des fahrplangebundenen Verkehrs nicht sinnvoll erreichbar. Dieser Grundgedanke der Mobilitätsgarantie im ÖPNV kann nur mit Einbindung von bedarfsgesteuerten Systemen realisiert werden, aber auch wiederum nur in Kombination mit einem starken Linienverkehr auf den relevanten Achsen. 

Zukunftsnetzwerk ÖPNV: Wie sehen Sie die Entwicklung von On-Demand-Verkehren in Baden-Württemberg?  

Gerd Hickmann: Bislang sind On-Demand-Verkehre noch „Restverkehre“. Dominierend bis heute sind sie in den ländlichen Räumen, zu verkehrsschwachen Zeiten oder auch im Abendverkehr. Oftmals sind es improvisierte, gebastelte Verkehre mit einem schwachen Marktauftritt, die nicht attraktiv genug sind, um Menschen zu erreichen, die Mobilitätsalternativen zum ÖPNV haben. Offensive Konzepte wie „SSB Flex“ oder „fips“, die versuchen, überhaupt einen Marktauftritt zu generieren, sind sicherlich noch in der Minderzahl.  

Zukunftsnetzwerk ÖPNV: Welche Bedeutung haben On-Demand-Verkehre aus Sicht des Landes? 

Gerd Hickmann: Ein flächendeckendes ÖV-System zu generieren, wird nur auf der Basis solcher bedarfsgesteuerten Systeme funktionieren, weil es anders nicht finanzierbar ist. Um Zuverlässigkeit im Nahverkehr zu schaffen, wie es z.B. in der Schweiz der Fall ist, müssen die Menschen auf das System vertrauen können. Dafür brauchen wir solche flexiblen Angebote. 

Zukunftsnetzwerk ÖPNV: Wie kann das Land die Akteur:innen bei der Einführung und dem Betrieb eines On-Demand-Verkehrs unterstützen? 

Gerd Hickmann: Einmal natürlich durch Pilotprojekte, wie wir als Land sie jetzt schon vielfach in Kreisgebieten und Mittelbereichen gefördert haben. Sie demonstrieren, dass On-Demand-Systeme funktionieren, und machen auch Nachbarn und anderen Appetit, diese zu kopieren und zu testen. Mit solchen Demonstrationsprojekten können wir die Machbarkeit darstellen. Zudem können wir durch das Zukunftsnetzwerk ÖPNV auch sicherlich noch besser und noch verstärkter einen Austausch und Know-how-Transfer organisieren. Das ist eine ganz wichtige Funktion. Aber ich glaube, da sind wir auch schon ziemlich weit. Daran scheitert die Realisierung eines solchen Systems nicht.  

Zentral ist die Finanzierung und wir arbeiten daran, die Mobilitätsgarantie auch in dem Sinne umzusetzen, dass wir den kommunalen Aufgabenträgern gewisse Mindeststandards vorgeben. Gemäß dem Konnexitätsprinzip müssen wir den Kommunen dann auch das nötige Geld gewähren, um diese Vorgaben erfüllen zu können. Der Druck, On-Demand-Systeme auch in jenen Kreisen umzusetzen, die da heute noch nicht so aktiv sind, wächst so automatisch.  

Zukunftsnetzwerk ÖPNV: Was tut das Land denn bereits konkret in Sachen Finanzierung? 

Gerd Hickmann: Wir fördern die kommunalen Aufgabenträger. Hierfür hatten und haben wir die verschiedensten Modellvorhaben mit Anschubförderungen bezuschusst. Anschließend müssen sie alleine laufen.  

Und was wir natürlich auch tun: Nach dem ÖPNV-Gesetz stellt das Land den kommunalen ÖPNV-Aufgabenträgern 250 Millionen Euro jährlich an ÖPNV-Grundförderung bereit – das darf man nicht vergessen! Der Schlüssel, nach dem diese Fördersumme verteilt wird, ist ein Anreizschlüssel. Das heißt: Je mehr Fahrplanleistung in den einzelnen Kreisgebieten erbracht wird, und je mehr Fahrgäste befördert werden, desto mehr Mittel erhält ein einzelner Landkreis aus diesem Budget. Und dort haben wir die bedarfsgesteuerten Systeme in der Schlüsselbildung recht gut gestellt. Wir wollen einen Anreiz schaffen, solche Verkehre aufzubauen.  

Zukunftsnetzwerk ÖPNV: Blicken wir 15 Jahre voraus: Welche Entwicklung wünschen Sie sich für die On-Demand-Verkehre in Baden-Württemberg? 

Gerd Hickmann: Ich wünsche mir, dass wir ein flächendeckendes ÖV-System mit einer halbstündigen Vertaktung im ganzen Land haben, und dass die bedarfsgesteuerten Systeme viel dazu beigetragen haben, dieses aufzubauen. Zudem wünsche ich mir, dass die On-Demand-Verkehre gar nicht mehr so eine große Rolle spielen müssen, weil die Fahrgastnachfrage inzwischen in vielen Relationen so angewachsen ist, dass man schon wieder auf Linienverkehre mit größeren Fahrzeugen umstellen konnte.  

Ich kenne Fälle aus den letzten 20 Jahren, wo man mit Ruftaxis gestartet ist, z.B. im Stadt-Umlandverkehr in Tübingen, um einen Nacht- und Abendverkehr aufzubauen. Irgendwann fuhren am Wochenende dann drei oder vier Taxis auf einmal, um die Fahrgastmengen bewältigen zu können. Inzwischen gibt es einen halbstündigen Busverkehr, der gut ausgelastet ist. On-Demand-Systeme können also durchaus Aufbauarbeit leisten und als Türöffner für den Linienverkehr agieren.  

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